Eine Spurensuche
In der U-Bahn sitzen schon Studierende, als wir am Hauptbahnhof Bochum in den vorderen Wagen einsteigen. 15 Minuten Fahrt. Die Linie U35 verbindet den Bochumer Norden mit dem Süden und schlägt sich einmal längs durch die Stadtmitte.
Erster Haupt-Bildungs-Halt ist die mit ihren Glaswellen aufsehenerregende Station der Ruhr-Universität, dann kommt vor der Endstation Hustadt eine kurze Haltestelle. Bochum-Lennershof: Ausstieg zur Hochschule. Die geographische Hierarchie stadtauswärts folgt der Chronologie von Gründung und Planung, Größenordnung der Campus-Bauten, dem Renommee der Abschlüsse, vielleicht dem Ego der Professorinnen und Professoren. Vieles scheint die Hochschule Bochum und die Ruhr-Universität Bochum (RUB) voneinander zu trennen. Hands-on trifft auf Elite. Brutalismus¹[A1] der Sechzigerjahre auf späten Funktionalismus²[A2] der Siebzigerjahre. „Die BO“ (in rot) trifft auf die „RUB“ (in blau). Dabei wachsen beide Bildungsorte schon über längere Zeit zusammen.
Bochumer Akropolis: Studieren im Grünen
Die Entscheidung, die größte Universität des Ruhrgebiets als monumentalen Fremdkörper außerhalb der Innenstadt auf der grünen Wiese – neben Bauernhöfen und Naturschutzgebieten – zu platzieren, beruhte auf der Notwendigkeit, Zeit und Kosten zu sparen. Weil im Nachkriegsdeutschland die Zahl der Studierenden beachtlich anstieg, mussten sich die neuen Bildungsbauten entsprechend ihrer Größe und Organisation an die veränderten Bedürfnisse anpassen. Der zügige Ausbau der bundesweiten Hochschullandschaft folgte dabei allein dem Ziel, „Bildung für alle“ zu schaffen. Ein Versprechen, dem sich die Architektur leider unterordnen musste.
Nachdem die zwölf Jahre unbeantwortete Standortfrage für die geplante Universität im „nordrhein-westfälischen Industrierevier“ 1961 endgültig im nordrhein-westfälischen Landtag für Bochum und gegen Dortmund beschlossen werden konnte, folgte der nächste Schritt: Wie sollte der neue Campus in der Bochumer Vorstadt Querenburg aussehen? Die große Bauaufgabe beschäftigte Architekten aus aller Welt.
Zehn Jahre später, im Jahr 1971, ruft das Land NRW nach der vorausgegangenen bildungspolitischen Reform der Gesamtschule einen neuen Typus ins Leben: die Fachhochschule. Baubeginn für die neue Fachhochschule Bochum soll bereits 1972 sein. Was die Insellage für den Universitäts- und Hochschulcampus an der Peripherie final bedeuten würde, damit setzte man sich nicht auseinander. Bildung sollte modern, rational, zugänglich, demokratisch sein.
Bochum-Lennershof. Eine schmale Straße schlängelt sich durch eine saubere Wohnsiedlung, deren liebevoll gestaltete Einfamilienhäuser wie bunte Miniaturen hinter den weit entfernten Schatten der RUB-Bauten warten. Bevor der Laie sich darüber wundern kann, ob dies eigentlich der richtige Weg ist, mündet die Einliegerstraße in der Lennershofstraße. Asphalt, Wiese, Bäume, ein Parkplatz, ein Platz. Links: der neue, gerade erst eingeweihte Fakultätsbau für Architektur und Bauingenieurwesen. Rechts: die alte Mensa, sanierte BlueBox. Dahinter türmen sich mit gewisser Erhabenheit die Stapelbauten mit den Stahlbalkonmodulsystembaurasterfassaden der 1971 gegründeten Fachhochschule Bochum auf, heute Hochschule für Ingenieurwissenschaften und Wirtschaft. Willkommen an der BO!
So rot, wie diese beiden Buchstaben auf dem grauen Beton leuchten, sind sie nicht zu übersehen. Die wabenförmigen Vordächer vor und auf dem Dach des Gebäudes könnten mit ihrem massiven Beton-Volumen ein Verweis in Richtung Ruhr-Uni sein, wo sich monumentale Stahlbetonbauten als Bildungsschiffe mit getrennten Verkehrswegen für PKW und Passanten zu einer Megastruktur formieren. Die Hochschule Bochum ist da in ihrem Maßstab doch wesentlich menschlicher. Rational und effizient geplant, ist sie eine funktionale Gebäudelandschaft mit offensichtlichen und zum Teil versteckten architektonischen Highlights. Allein die Fassadenkonstruktion gilt für Experten als Wahrzeichen, folgt sie der Idee des bekannten Marburger Bausystems.
Die Betondächer erzählen zusammen mit dem riesigen Zahnrad und weiteren überdimensional großen Maschinenbauteilen auf dem Vorplatz der Hochschule Bochum von den Anfängen der Ingenieurschule. Ursprünglich waren die Objekte als Teil eines Ausstellungsweges geplant, der von der BO bis zur RUB führen sollte. Heute schreien sie zusammen mit den markanten Fassadensystemen nach einer Sanierung. Ihre blassen Stahlprofile leuchten nicht mehr rotorange, sondern eher lachsrosa und haben schon bessere Zeiten erlebt. Wie große Regale tragen sie Büros und Seminarräume.
Welches Gebäude zuerst errichtet wurde, erzählt eher der tatsächliche Zustand als das äußere Erscheinungsbild.
Die Entstehungsgeschichte der Campus-Bauten von A bis H erschließt sich schwer auf einen ersten Blick, sondern erst nach längerer Recherche. Der Architekt Günther Marschall (1913–1997) entwarf und baute den Kern der damaligen Fachhochschule Bochum. Auch wenn sein Name eher unbekannt ist, ein bekanntes Gebäude hat Marschall gebaut. Als Architekt war er in Marl maßgeblich für die Stadtplanung verantwortlich, wo 1955 seine „insel“, ein transparenter Fünfzigerjahre-Bau mit filigranen Stahl-Glas-Fassaden für die Volkshochschule entstand – seit 1977 der Sitz des Adolf-Grimme-Instituts.
Marschalls Gebäudetrio für die Fachhochschule Bochum mit den angegliederten eingeschossigen Laboreinheiten, die in die Landschaft blicken, ist besonders von Sparmaßnahmen und Umplanungen gezeichnet.
Der Wirtschaftsaufschwung ist vorbei. Die Jahre von 1968 bis 1979 sind von ständigen Budgetkürzungen und Anpassungen der Gebäudeentwürfe geprägt. 1973 mittendrin die Ölkrise: Es sind unsichere Zeiten. Dem Architekten blieb kaum Zeit, kaum Budget, kaum Spielraum – Baufehler waren im Grunde vorprogrammiert. Der Hörsaal-Bereich konnte erst ein Jahr nach Inbetriebnahme fertiggestellt werden, berichtet Uwe Tratzig, Alumnus der Hochschule Bochum. Er hatte schon 1977 an der FH studiert, als sich diese noch über Bochum, Gelsenkirchen und Recklinghausen verteilte. Mit dem Umzug im Juli 1979 vereinen sich die Standorte Recklinghausen und Bochum, Kohlenstraße auf einem gemeinsamen Campus. „Im Bauteil A waren die Bauleute aus Recklinghausen: Architektur, Bauingenieurwesen und Vermessung“, weiß Tratzig. „Im Bauteil C saßen Maschinenbau und Elektrotechnik aus der Kohlenstraße. Und die Maschinenbaulabore und die Elektrotechniklabore zogen in die eingeschossigen Labortrakte.“ Bauteil B ist noch im Bau, „das Wintersemester 1979/80 wird als Notsemester mit erheblichen Einschränkungen durchgeführt”, so dokumentiert es die Bauchronik. „Die Mängelliste reicht von falsch verlegten Fußbodenplatten bis zu schrumpfenden und nicht mehr verschließbaren Holztüren.“ Die Aufzüge sind insgesamt erst 1981 funktionstüchtig; 1984 werden die Außenanlagen fertiggestellt. Mit dem Ende aller Baumaßnahmen 1986 blickt die Fachhochschule auf eine unzumutbare Gesamtplanungs- und Bauzeit von 24 Jahren zurück. Günther Marschall ist zu diesem Zeitpunkt 73 Jahre alt, die Fachhochschule Bochum ist eins seiner letzten Gebäude. Ob er mit dem Ergebnis zufrieden war?
Allein die Betondächer sind ein Blickfang für die Bochumer Architekturprofessorin Karin Lehmann. Sie zieren das funktionale Marschall-Ensemble als skulpturales Element. „Die fliegenden Dächer lagen in den Fünfzigerjahren im Trend. Sie sind also ein Zitat aus dieser Zeit, das Günther Marschall neu interpretiert hat.“ Die Vermesser hätten schon damals die Dachterrassen der Terrassenhäuser für ihre technischen Übungen genutzt, erinnert sich Tratzig – heute wird das Dach von den Studierenden als Fläche für Urban Gardening genutzt.
Für Karin Lehmann ist das Hauptensemble der Fachhochschule eine eher leise Architektur. „Hier wollte man 1974 primär sicher keine Architekturikone bauen“, lautet ihre Einschätzung. „Sondern es ging in erster Linie darum, Räume für möglichst viele Studierende zu schaffen. Das politische Motto der Siebzigerjahre im Ruhrgebiet lautete: Bildung für alle.“
Angesichts der finanziellen Lage wurde der Anspruch kleiner und verkürzte sich auf: Bildung für viele. Sparmaßnahmen führten zu Verkleinerungen der Raumprogramme – Umplanungen prägten die junge Fachhochschule, und die Bauchronik von 1978/79 liest sich wie ein Horror-Szenario eines jeden Architekten. Die Bauzeit des Wirtschaftsgebäudes als Nachzügler ist deutlich lesbar: Der Anbau erfolgte erst 2001. Mit seiner hellen Fassade setzt sich das AW-Gebäude deutlich vom A-Gebäude ab, eine Einheit kommt hier weniger zustande. Die späte Entscheidung für den Anbau basierte auf wirtschaftlichen Gründen – bis 2001 residierte der Fachbereich Wirtschaft deswegen an der benachbarten RUB.
Ein Gebäude ist älter als das Marschall-Ensemble von 1979. Es stand sogar schon vor Gründung der Fachhochschule:
Die Metamorphose der alten temporären Mensa zur BlueBox
Als die Mensa der RUB 1964 nach dem Entwurf von Bruno Lambart (1924–2014) errichtet wurde, konnte sich vermutlich keiner der Projektbeteiligten vorstellen, wie das Gebäude 50 Jahre später genutzt werden würde. Dass es nicht abgerissen wurde. Dass diese feine Bochumer Ikone einmal den Architektennachwuchs prägen würde.
Laut Bruno Lambart sollte „die Gestaltung der ersten Mensa der Ruhr-Universität Bochum (…) ausdrücklich eine Alternative zu den geplanten Betonarchitekturen auf dem Campus darstellen“, wie der Düsseldorfer Architekt noch zu Lebzeiten der Kunst- und Architekturhistorikerin Alexandra Apfelbaum im Juli 2011 erzählte⁷[A7] . Er hat den zweigeschossigen Solitär nach Vorbild der rationalen Stahlarchitekturen des deutsch-amerikanischen Architekten Mies van der Rohe (1886–1969) entworfen, die Leichte und Schwere so elegant in einem Baukörper vereinen.
Bruno Lambert hatte sich, das muss man wissen, wie 84 andere Kollegen ebenfalls seine Gedanken zur räumlichen Gestalt und Konzeption der neuen RUB gemacht. Elite sucht stets passende Großprojekte und ohne einen solchen entstünden Bauprojekte dieses Maßstabs auch gar nicht. Im Sommer 1962 wird der Wettbewerb für die Bochumer Universität ausgeschrieben, 85 Entwürfe sind beim Preisgericht eingereicht. Um die Geschichte abzukürzen, das Ende ist schließlich bekannt: Den Architekturwettbewerb konnten weder die Schwergewichte der internationalen Architekturgeschichte Mies van der Rohe, Alvar Aalto, Arne Jacobsen oder Walter Gropius für sich entscheiden, noch der ambitionierte Düsseldorfer Schulbauer Bruno Lambart, sondern das Düsseldorfer Büro HPP, gegründet von Helmut Hentrich und Hubert Petschnigg: den Architekten des Dreischeibenhauses. Bruno Lambart durfte für die RUB dann doch ein Gebäude im Masterplan von HPP entwerfen und während er sich mit dem Bibliotheksgebäude an der RUB verewigen konnte, wurde ihm auch noch die temporäre Mensa auf dem späteren FH-Areal angeboten. Die heutige BlueBox.
Der Rohbau der Stahlskelettkonstruktion konnte dank Vorfertigung der Bauteile in nur drei Monaten errichtet werden. Zur Fertigstellung im Juni 1965 blickte der temporäre Mensabau der Ruhr-Universität auf Wiesen, Felder und Wälder – in reichlicher Entfernung vom eigentlichen Unicampus. Die Neubauplanungen für die Bochumer Fachhochschule werden zu diesem Zeitpunkt noch diskutiert. Erst ab 1974 wird sich das Areal hinter der Mensa in eine Baustelle verwandeln, aber da ist der Systembau schon als Speicherbibliothek umgenutzt. Bis 1971 stillte die Lambart-Mensa den Hunger von tausenden Studierenden und hunderten Professor*innen der Reformuniversität. Ganz demokratisch ging es in dem Service-Bau dann noch nicht zu, Essensausgabe und Speisebereiche gliedern sich mit strenger Hierarchie in Bereiche für die Lehrenden und die Lernenden. Während die einen in der großen stützenfreien Halle saßen, nachdem sie sich an der Essenausgabe hinter den Treppenausgängen ihr Menü selbst geholt hatten, speisten die anderen im hinteren Raum als Universitätspersonal ganz privilegiert à la carte.
Nach einer wechselhaften Geschichte verschiedenster Zwischennutzungen (Bibliothek, Werkstatt, Disco, Speichermagazin) hat sich der Stahlbau seit 2009/10 unter dem neuen Namen BlueBox als experimenteller Lernort für Architekturstudierende etabliert. „Die BlueBox war mal eine richtige Rumpelbude“, erinnert sich Karin Lehmann. Die Professorin für Gestaltungslehre, Baugeschichte und Architekturtheorie ist seit 2006 an der Hochschule Bochum, weshalb sie die alte Mensa noch im Originalzustand mit den blauen Blech-Paneelen kennt. „Ich konnte dort mit den Studierenden noch Mal-Workshops organisieren, weil sich niemand an ein paar Farbflecken auf dem alten Boden gestört hat.“ Was sicher auch daran lag, dass der ehemalige Mensabau mit der Verblechung aus seinen Speichermagazinzeiten kaum einsehbar war. Vielleicht sei die BlueBox vor der Sanierung sogar noch etwas mehr Working Space als heute gewesen, weil es ein introvertierter Raum war, vermutet Karin Lehmann. „Die Kernsanierung ist mehr als gelungen und keiner möchte die BlueBox missen“, lobt die Professorin abschließend.
Schlüsselrolle für die Rettung und Umnutzung der Sechzigerjahre-Ikone trägt ein engagierter Hochschulprofessor: der Architekt Wolfgang Krenz. Sein Büro Archwerk Generalplaner hatte das Gebäude 2009 energetisch saniert und authentisch revitalisiert. Der Außenzustand wurde wiederhergestellt, die blau gestrichenen Blechpaneele entfernt, so dass der Baukörper mit seiner Glasfassade wieder wie 1965 die Leichtigkeit der Moderne repräsentieren kann. Die Sonnenschutzelemente konnten als Original wieder montiert werden. Abends, wenn es dämmert, leuchtet die Decke und ein blaues Licht strahlt aus der Lambartschen Box: BlueBox!
Krenz, der selbst in Karlsruhe bei Egon Eiermann studiert hatte, kam 1993 an die Fachhochschule Bochum. Gerade ist er 78 Jahre alt geworden, „im Kopf bin ich noch wie 48“, pfeift Krenz. Als unangepasster Alt-68er symbolisierte er zu Fachhochschulzeiten das Enfant terrible: ein Botschafter, der viel zu erzählen hat, ein Macher, der mitgestalten will. Einer, der viel dazu beigetragen hat, dass sich die einst eher verschulte Fachhochschule Bochum in die heutige Hochschule BO verwandelt hat. „Auch wenn ich mich an der Fachhochschule Bochum beengt gefühlt habe, habe ich mich trotzdem von Anfang sehr wohl gefühlt: Ich war zuhause“, erzählt Wolfgang Krenz vorab am Telefon. Er trage das Denken auf der Zunge, sagt er über sich selbst, kennt viele Geschichten. Ihm möchte ich unbedingt zuhören.
Bochum, Prinz-Regent-Straße. In einem alten Backsteinbau sitzen Archwerk Generalplaner, das Büro von Wolfgang Krenz. „Ich kenne jede Ecke in der BlueBox“, betont der Architekt. „Das Gebäude ist damals als Mensa temporär konzipiert und auch so gebaut worden.“ Er sei damals zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort mit der richtigen Idee gewesen: „Das kleine Glück des Architekten – weiß ich aber auch erst heute.“ Kern des Betonfertigteilgebäudes sind die Rohplatten, die Stahlbetonrippendecken, die Fertigteilstützen. Der original 66 Schieferboden im Erdgeschoss, ein norwegischer Quarzit, auf dem Karin Lehmann noch mit ihren Kursen gemalt hatte, musste leider zugunsten einer Wärmedämmung entfernt werden. Im Inneren verändert das Team um Krenz die Struktur: verlegt den Haupteingang an die Westfassade in Richtung Platz, die vier Treppenaufgänge werden abgetragen und versiegelt. Wer heute im Studioraum des Erdgeschosses an die Decke schaut, kann in der Kassettendecke noch die Spuren der ehemaligen Treppenabsätze entdecken. Die Stellen sind glatt verputzt. Durch diesen Eingriff entsteht eine attraktive Saalfläche im Obergeschoss, die sich flexibel nutzen lässt. Dieser Raum mit dem offenen Mero-Tragwerk ist beeindruckend, seine Akustik hervorragend, die Atmosphäre einzigartig und es wundert nicht, dass die Hochschule Bochum für ihr „Klaus Steilmann Auditorium“ immer wieder externe Mietanfragen erhält.
„Lernhaus und Lehrhaus, ein Lebensraum: Die BlueBox ist mein Lebenswerk. Wir haben das Gebäude lesen gelernt, wir haben es verstanden“, unterstreicht Wolfgang Krenz. „Für mich ist es eine kleine Hommage an Bruno Lambart, aber eigentlich ist es eine Hommage an Mies van der Rohe und meinen alten Egon Eiermann.“ Krenz zeichnet nicht nur die beeindruckende Sanierung der Architekturikone verantwortlich, er hat bei den Ministerien das Budget von 6,5 Millionen Euro beantragt. Und bekommen. Eine weitere Hürde stellte die vorige Nutzung dar. Schließlich lagerten in der Mensa noch 400.000 Bücher und Zeitschriften, die noch zu räumen waren. Die vier besetzten Planstellen der Bibliothek, die nach dem Prinzip der lebenslangen Beschäftigung unkündbar sind, mussten umverteilt werden – wobei ein Mitarbeiter für die Folgenutzung der BlueBox übernommen werden konnte. Und von den tausend Meter Bücherregalen, die Krenz vor dem Schrott retten konnte, wanderte ein Teil kurzerhand in sein Architekturbüro. Die im eleganten Ockerbraun der Nachkriegsjahre pulverbeschichteten Stahlkonstruktionen gliedern hier als Raumtrenner das offene Großraumbüro und erinnern an die wilde Baugeschichte der alten Mensa. Heute überzeugt das Freiarmregal „Univers“ von Kerkmann mit seinem praktischen Stecksystem und seiner Schlichtheit als Normcore-Objekt. Doch gibt es den bewährten Klassiker der Bibliotheksausstattung nicht mehr in den markanten Ockertönen, sondern nur noch in neutral lichtgrau.
Zurück zum Campus der Hochschule: Wieviel Mies van der Rohe steckt nun in Bruno Lambarts Mensa?
„Die BlueBox ist für mich keine Kopie der Crown Hall, sondern eine Reminiszenz“, urteilt Krenz. Die legendäre Crown Hall für das Illinois Institute of Technology (IIT) in Chicago, Baujahr 1956, sei eine klassische Mies-Konstruktion mit totalem Raum. „Der Weg von Mies van der Rohe und Konrad Wachsmann mit seinem Raumtragwerk ist der Schlüssel zu Bruno Lambart“, erläutert der Architekt. Ein weiterer wichtiger Unterschied zur Crown Hall: Die BlueBox habe zwar auch ein Raumtragwerk, aber als Stab- und nicht als Rastertragwerk, unterstreicht Krenz. Für dessen Revitalisierung konnte das Team von Archwerk und dem Tragwerksplaner Karsten Tichelmann aus Darmstadt glücklicherweise Unterstützung von MERO bekommen. Die Tragfähigkeit musste nicht nur neu nachgewiesen, sondern das Tragwerk auch um rund 200 Stäbe ergänzt werden, um die neuen Lasten zu tragen. „Die elegante, beinahe unsichtbare Stahlkonstruktion und der universelle Raum kommen durch die sensible Sanierung und ausgezeichnete Integration der Technik wieder zu ihrem Recht“, würdigt 2012 die Jury des Stahlbaupreises die BlueBox in Bochum. Die Auszeichnung reiht sich neben die Anerkennung guter Bauten 2010 des Bunds Deutscher Architekten (BDA) Bochum.
Zukunft aus Holz: Hörsaal 9
Die Hochschule Bochum besitzt noch ein zweites Architekturhighlight, das mit einem Preis ausgezeichnet wurde. Der BDA ehrte 2020 den neuen Hörsaalanbau H9 mit einer Anerkennung beim Architekturpreis Bochum. Nicht Stahl, sondern Holz ist hier das Material der Stunde. Es ist ein didaktisches Gebäude, das zudem die Schönheit nachhaltigen Bauens unterstreicht.
Das Studio Banz + Riecks Architekten ist auf Holzbau spezialisiert. Beauftragt im Rahmen einer europaweiten Ausschreibung haben die Bochumer Architekten im B-Gebäude von Günther Marschall im Mai 2019 einen Hörsaal angedockt, der erlebbar macht, wie Architektur funktioniert. „Tragwerk, Belichtung, Energie, Brandschutz, Bauphysik: Die gesammelten Disziplinen, die in der Architektur dazu führen, dass sich eine optimierte Gestalt entwickelt, sind in dem Hörsaal spürbar“, definiert Dietmar Riecks das Konzept des Holzbaus. „Wenn ich Architektur betrachte, frage ich mich, warum ist etwas gebaut, wie es ist“, sagt Riecks. „Warum ist ein Gebäude gut so, wie es ist?“
Die Akustik überzeugt, der Ausblick ist besonders.
Wer den Galeriegang entlang geht, schreitet auf eine dichte Baumkulisse zu, die den Neubau entlang der Hangkante flankiert. Lautlos bewegen sich die Blätter im Wind, innen spiegeln sich die Lichter in der Verglasung, die zu einem Link zwischen Raum und Umgebung wird. Vis-à-vis zum Ausblick befindet sich ein Geschoss tiefer die Vortragsebene, die sich über das abfallende Auditorium erschließt. Über der Bestuhlung schwebt der Tragwerksrost aus BauBuche, einem neuen Baumaterial aus Laubholz. Dazu erläutert Riecks: „BauBuche hat nicht nur einen besseren Kennwert als konventionelles Brettschichtholz aus Kiefer oder Fichte, sondern entwickelt auch eine wesentlich bessere Atmosphäre als Nadelholz.“ Besonders erwähnenswert ist für Riecks, dass der Hörsaalanbau über die Ausstattung mit der zunächst optional vorgesehenen Photovoltaikanlage als Nullemissionsgebäude darstellbar ist. „Das Gebäude ist hochwärmegedämmt und nicht an die Energieversorgung der Hochschule angebunden“, betont der Architekt. „Der Restenergiebedarf wird geothermisch mittels Erdwärmepumpen autark bereitgestellt.“
Darüber hinaus ist der Hörsaal das erste und einzige Bauwerk der Hochschule Bochum, das die Beziehung zwischen Architektur und der benachbarten Naturlandschaft mit verschiedenen Mitteln spielt, die Verbindung und Trennung inszeniert. Der Raum ist gleichzeitig offen und konzentriert. Und während die anderen Hörsaal-Bereiche von Günther Marschall einer veralteten Logik folgen – es sind geschlossene Räume ohne jeden Außenbezug, die komplett künstlich belüftet und belichtet sind – verbindet sich der H9 den gesamten Tag über mit seiner Umgebung: dem angrenzenden Waldstück im malerischen Ruhrtal.
Dass die Wirkung von Tageslicht und Wetter einen positiven Einfluss auf das vegetative Nervensystem hat, war in den Siebzigerjahren noch unbekannt.
„Diese Qualität führt dazu, dass sich die Studieren den in einem Raum wohlfühlen und nicht abgeschottet von der Außenwelt in einer Kapsel sitzen“, erklärt Hörsaal-Architekt Dietmar Riecks. Wie wirkten die Hörsaal-Kapseln von Günther Marschall? „In den Vorlesungen hätten wir keine Sekunde gehabt, in der wir aus dem Fenster hätten schauen können “, antwortet Uwe Tratzig auf die Frage, wie er die Hörsaalkapseln wahrgenommen hat. „Mein Matheprofessor hat damals in 90 Minuten Vorlesung durchschnittlich 16 Tafeln vollgeschrieben. Und außerdem hatten wir eine unverbaute Aussicht aus den Seminarräumen in Richtung Süden auf den Kalwes.“ Uwe Tratzig erinnert sich gerne an die Anfangszeiten der Fachhochschule zurück. Identifizierte er sich damals denn mit der Architektur? Immerhin hat sie ihn so sehr beeindruckt, dass Tratzig ein umfassendes, dokumentarisch-persönliches Foto-Archiv der Anfangsjahre besitzt und es sogar liebevoll digitalisiert hat. Kirschrot haben die Stahlprofile der Balkone damals geleuchtet; die Anzüge der Professoren: Braun, Beige und Hellgrau. Alle Männer tragen Krawatte.
„Jedes Bauwerk ist ein Kind seiner Zeit“, meint Dietmar Riecks. Mit 350 Sitzplätzen ist der neue Hörsaal das größte Auditorium der Hochschule – und der einzige Holzbau auf dem Campus. „Vor 20 Jahren standen wir noch sehr allein da, jetzt gewinnt Holzbau an Fahrt“, freut sich der Bochumer Architekt. Holzbau sei nicht unbedingt teurer als konventioneller Rohbau, aber: Holz ist sensibel. Womit der Hörsaal für den Campus in Richtung Zukunft weist. „Atmosphärisch kommt nur positives Feedback, sowohl aus der Professorenschaft als auch von den Studierenden. Ich wüsste also nicht, was dagegensprechen würde, dass weitere Folgeprojekte an der Hochschule Bochum ähnlich ambitioniert gebaut werden.“
Verlässt man den Hörsaal, gelangt man auf die innenliegende Magistrale. Von 2020 bis 2021 wird dieser Bereich behutsam saniert. Eine neue Beleuchtungsanlage, neue Oberflächen für Böden, Decken und Wände sowie Sitzgelegenheiten für die Wartezeit zwischen den Vorlesungen sorgen für ein zeitgemäßes Update. Als Wirbelsäule der Hochschule koppelt die Magistrale die hintereinander gestaffelten A-, B- und C- Bauten mit dem F-Gebäude. Dahinter beginnt die grüne Wiese. Der F-Neubau wurde 2006 nach dem Entwurf der Architekten Ulrich Krampe und Peter Reiter als neue Mensa und Verwaltungsbau der Hochschule Bochum fertiggestellt: viel Beton, viel Glas, das Erdgeschoss mit der Hochschulmensa öffnet sich großzügig zur Landschaft.
Für den Bau dieses hochschulinternen Begegnungsortes, der auch für Veranstaltungen genutzt wird, haben sich Krampe Reiter Architekten, die später getrennte Wege gehen sollten, 2004 in einem Wettbewerb qualifiziert. An dieser Stelle lohnt sich noch ein Schlenker zurück zum Bochumer Hauptbahnhof. Der Fünfzigerjahrebau wurde als „Juwel der Nachkriegsmoderne“ nämlich von 2004 bis 2006 parallel zum Hochschulneubau von Krampe und Reiter behutsam und umfassend saniert.
Ob es für den Bau der Fachhochschule eigentlich einen Architekturwettbewerb gegeben hat? Die Archive der BO und der RUB finden dazu keinerlei Informationen, Ratlosigkeit auch beim Gebäude und Liegenschaftsmanagement der Hochschule Bochum. Und der BLB hat als Bauherr aller Bildungsbauten in NRW erst 2001 übernommen. „Sie können es sich denken: 1971 ist zu nah an der Gegenwart, dass man damals den Wert der Bauten zu schätzen wusste. Und zu lange her, dass die Mitarbeitenden aus dem Staatlichen Hochbauamt, die mit dem Bau der Bochumer Fachhochschule beauftragt waren, noch im Amt sind.“ Der BLB zeigt sich freundlich, interessiert und hilfsbereit, aber auch dort bleibt diese Frage unbeantwortet. Unterlagen zu den ersten Bauten der Fachhochschule scheinen verschwunden. Wolfgang Krenz weiß: „Nein, es hat keinen Wettbewerb gegeben, dafür war gar keine Zeit. Wenn ich mich richtig erinnere, war Günther Marschall einer der Projektleiter für den RUB-Campus.“
Günther Marschalls Gebäude der Hochschule Bochum sind wie die klassischen, konstruktivistischen Eiermann-Architekturen: Sie schweben wie Schiffe über einer Magistrale. Die klare innere Struktur der Organisation folgt dabei analog dem klar gegliederten Raster der Fassaden. Der Funktionalismus kennt keinen Zufall, so dass die umlaufenden 68 Balkone zugleich als Sonnenschutz, zur Reinigung der Verglasung und als Fluchtweg dienen. Der Ursprung dieser Bauweise liegt im Marburger Bausystem, auf dessen Grundlage viele weitere Systeme entwickelt wurden.
Gebäude sollten flexibel sein und wachsen können. „Du kannst nichts besseres entwerfen“, würdigt deshalb Wolfgang Krenz die klassischen Balkongebäude der Fachhochschule. 17 Jahre hatte er seinen Lehrstuhl in der fünften Etage im A-Gebäude. Heute sagt er: „Wenn ich das Ensemble sanieren würde, käme da eine Glashülle drüber: Fertig.“
Die Treppe als Raum: Das H-Gebäude
Gernot Schulz, Karin Lehmann und ihre Kollegen haben 2020 das A-Gebäude verlassen und konnten mit ihren Lehrstühlen in das frisch errichtete H-Gebäude ziehen.
Der Neubau von netzwerkarchitekten vereint die Fachbereiche Architektur und Bau- und Umweltingenieurwesen. Am westlichen Rand des Campus-Geländes platziert, steht er dennoch prominent gegenüber der BlueBox und spannt dabei als gebautes Pendant einen städtischen Platz auf – „ein urbanes Element“, findet der Projektarchitekt Jochen Schuh.
Die beiden Fachbereiche verzahnen sich eng miteinander, ein Begegnungsraum entsteht. Aus dem Nebeneinander soll sich ein intensives Miteinander entwickeln. Spannend sind für netzwerkarchitekten besonders die Zwischenräume wie Atrien, Treppen, Galerien und weitere Bewegungs- und Begegnungsflächen. Erschließungs- und Verkehrsflächen bieten für das Büro aus Darmstadt stets einen Mehrwert, der aktiviert werden muss. Und in Bochum wurde die Treppe als Begegnungsraum auch schnell angenommen. Erste kleinere Installationen, die Studierende auf die Betonwände geklebt haben, eignen sich den nackten Neubau an: Als ungeplante Spuren verkörpern sie die Partizipation der Nutzer, die ein lebendiges Lernhaus zulassen muss.
Für netzwerkarchitekten war es ein großer Anreiz, für die Studierenden der Architektur und des Bauingenieurwesens ein Gebäudekonzept zu entwerfen. „Ein solches Projekt hat etwas mit der eigenen Ausbildung zu tun”, so Schuh. Alle sechs Gründungspartner von netzwerkarchitekten verbindet das Architekturstudium an der TU Darmstadt auf der sogenannten Lichtwiese. Aber auch das Konzept der TU Delft mit den flexiblen Arbeitsplätzen und Open Spaces diente als Referenz und Vorbild für Offenheit, Interaktion und Vernetzung – wovon sich die Amts- und Entscheidungsträger der Hochschule Bochum während einer Exkursion nach Delft vor Ort selbst überzeugt haben. netzwerkarchitekten nehmen 2013 an dem geladenen Architekturwettbewerb teil, das Darmstädter Studio gewinnt den ersten Preis. Die Lernlandschaft der BlueBox soll in einen räumlichen Dialog mit dem neuen Seminargebäude als Lehr- und Forschungsinstrument treten, heißt es in der Entwurfserläuterung.
Während sich die Büros der Lehrstühle auf der Rückseite befinden und Richtung Westen auf die RUB blicken, orientieren sich die Seminarräume zum Platz und zur BlueBox. Das expressive Tragwerk verstehen die Architekten als Sinnbild für die Zusammenarbeit zwischen Architekt*innen und Ingenieur*innen: „Das entspricht ganz der Art und Weise, wie wir als Architekten unseren Beruf leben“, bekundet Schuh. Gerne hätten er und sein Team das Geothermiezentrum der angegliederten Fraunhofer-Einrichtung als Demonstrator im Gebäude mit eingebunden, doch unter den Kostenbedingungen war das nicht realisierbar. „Aber unsere Planung ist so angelegt, dass man die Geothermie nachrüsten kann“, erklärt Jochen Schuh.
Karin Lehmann lobt das H-Gebäude für den gelungenen Spagat aus architektonischer Eigenständigkeit und Bescheidenheit. netzwerkarchitekten sei es gelungen, ein starkes Statement zu bauen, ohne dabei der BlueBox Konkurrenz zu machen. Bruno Lambart hatte die sanierte und umgebaute Mensa übrigens noch kurz vor seinem Tod besichtigen können. „Er hatte mich daraufhin angerufen: Das haben sie wohl ganz gut gemacht“, entsinnt sich Wolfgang Krenz. Und schüttelt den Kopf: „Zuvor hatte er mich noch verteufelt: Sie revitalisieren dieses Haus, ohne mich zu fragen!“ Kollegiale Wertschätzung trifft auf gebrochenes Ego – gar nicht so ungewöhnlich in der Architektur.
Seit 2010 hat die BlueBox um die 800 Arbeitsplätze für Studierende und einen beachtlich ausgestatteten CAD-Pool. Für den Bochumer Fachbereich Architektur bleibt das Gebäude DAS Aushängeschild. Der Kölner Architekt Gernot Schulz deklariert die BlueBox sogar als das wichtigste Gebäude der gesamten Hochschule, „weil es die Lern- und Lehrformen der Zukunft in sich birgt: weg vom Frontalunterricht hin zum angeleiteten Selbstlernen. Dafür ist die BlueBox ein gutes Bild, das wir noch mehr zum Gesamtbild der Hochschule formen sollten“, wünscht sich Schulz, Dekan für den Fachbereich Architektur an der Hochschule Bochum. Das Ziel von Wolfgang Krenz scheint damit erreicht. Der Architekt hatte bereits zu Beginn seiner Professur 1993 die Möglichkeit erkannt, in der damaligen Speicherbibliothek des Landes NRW seine Vision eines zukunftsweisenden, diskursiven Lern- und Lehrkonzeptes umzusetzen. Mit diesem Konzept konnte er seinerzeit auch Ministerpräsident Wolfgang Clement und seinen Staatssekretär für Wissenschaft überzeugen und somit den Startschuss für die Entwicklung der BlueBox geben. Ein passendes Geschenk zum 50. Hochschuljubiläum wäre da doch neben einer behutsamen Grundsanierung der Stapelbauten von Günther Marschall und einem neuen Werkstattgebäude für den Campus der längst überfällige Denkmalschutz für die einstige Mensa: zu Ehren von Bruno Lambart. Damit der Bildungsstandort Bochum auch die nächsten 50 Jahre weit über das Ruhrgebiet hinaus leuchten wird.
Jeanette Kunsmann, Bochum/Berlin, Mai 2021