Zweiter Standort
Maschinen, die denken – oder zumindest den Anschein erwecken. Intelligente mechatronische Produkte wie Fahrkartenautomaten, die eigenständig Streckenverbindungen errechnen und Tickets drucken, vernetzte Smart Factories, Robotics oder schlicht das Anti-Blockier-System im Auto sind für Studierende am Campus Velbert/Heiligenhaus Forschungs- und Lehrobjekte zugleich
Die Absolventinnen und Absolventen haben nach ihrem praxisbezogenen Studium die Wahl: Die klassische Produktentwicklung der Automobilindustrie oder ein mittelständisches Unternehmen aus der Schlüsselregion Velbert/Heiligenhaus.
Der zweite Standort der Hochschule Bochum wurde 2009 in Heiligenhaus gegründet und bietet ausschließlich ingenieurwissenschaftliche Studiengänge gemeinsam mit den Fachbereichen Maschinenbau und Mechatronik sowie Elektrotechnik und Informatik an. Durch einen großen Rückhalt der lokalen Unternehmen kann der Campus mit mehr als 100 Kooperationsverträgen für duale Studienplätze in der Region aufwarten. Das Studienangebot wird Ende 2022 neben der Angewandten Informatik sowie der Wirtschafts- und Industrieinformatik durch die Vertiefungsrichtungen Systemtechnik und Künstliche Intelligenz im neuen Studiengang Mechatronische Systeme ergänzt.
Erfinder
Mischung aus Hard- und Software: „Wenn man an Ingenieurinnen und Ingenieure denkt, haben einige das Bild eines Bastlers und Erfinders wie Daniel Düsentrieb vor Augen. Das mag auch ein wenig stimmen. Unser Berufsbild ist – oder war es zumindest früher – viel spezialisierter: Es wurde entweder eine Hardware konstruiert oder eine Software geschrieben. Jetzt hat eigentlich jede Hard- auch eine Software und somit mehr elektronische Anteile, die mitgedacht werden müssen. Gleichzeitig wird die Produktdifferenzierung über die Software immer bedeutsamer. Ich sehe dabei die Digitalisierung nicht als Heilsbringer. Sie ist lediglich ein weiteres Werkzeug oder eine neue Darstellungsform. Es ist nämlich nicht wichtig, wie wir etwas erstellen, sondern was – und da spielen andere Faktoren wie zum Beispiel eine ethische Verantwortung eine viel wichtigere Rolle.“
Verantwortung
Ethische Fragen beantworten: „Unsere Studierenden werden befähigt, selbstfahrende Autos zu bauen oder Roboter zu planen, die in der Krankenpflege eingesetzt werden könnten. Auch, wenn das spannende Experimentierfelder sind, versuchen wir mit ihnen einen Schritt zurück zu machen und ethische Fragen zu thematisieren wie: Unter welchen Rahmenbedingungen ist das möglich? Gibt es Gründe, das nicht zu tun – technische, rechtliche, ethische? Als Ingenieure müssen wir uns unserer Verantwortung bewusst werden und uns fragen: Was möchte ich realisieren und nicht was kann ich realisieren. Im späteren Job bleibt manchmal keine Zeit fürs Hinterfragen oder fürs Forschen, deswegen ist es umso wichtiger, dass unsere Studierenden es früh lernen. Das Gleiche gilt für das immer wichtiger werdende Thema der Nachhaltigkeit. Wir denken sie immer mit – allein schon vor dem Hintergrund der Wirtschaftlichkeit. Wir wollen grundsätzlich Ressourcen sparen, und zwar nicht nur materielle, denn auch eine Software kann vielseitig wiederverwendet werden.“
Anturner
Kombination aus Technik und Menschlichkeit: „Für eine herausragende Lehre reicht es nicht, über ein Multitechnikum, große Forschungsräume und einem Lenkungsprüfstand, den sich kaum ein Industrieunternehmen leistet, zu verfügen. Es gehört auch Menschlichkeit dazu. An unserem Campus herrscht eine besonders familiäre Atmosphäre. Hier können sich Studierende mit Schwächen nicht so einfach verstecken – was gut ist, denn so können wir uns individuell um sie kümmern. Die Qualität unserer Hochschule steht und fällt aber auch mit dem Engagement der Lehrenden. Erklären sie gut? Hinterfragen sie richtig? Und all das ist an der BO der Fall. Eine Bestätigung dafür ist, dass Studierende bei uns im Verlauf des Studiums immer öfter danach fragen wie etwas funktioniert und nicht danach, ob es prüfungsrelevant ist. Dasund die Rückmeldung aus der Industrie zeigen mir, dass wir mit unserem Lehrkonzept genau das Richtige tun. Wenn also Technik – sowohl für Lehrende als auch für Studierende – ein Anturner ist, dann ist man bei uns genau richtig.“
Balance
Mit Wurzeln weiterentwickeln: „Mit Elektromobilität hatten wir den allerersten Lehrstuhl für ein nachhaltiges und innovatives Thema in Deutschland. Mich würde es freuen, wenn sich die BO auch weiterhin als Innovations- und Impulsgeber in der Region etabliert und weiterentwickelt. Dabei wird es wichtig sein, die Balance zu finden, zwischen dem Anspruch der Gesellschaft und der Industrie an Forschung und Lehre der Hochschule, der akademischen Neugier für neue Themen und gleichzeitig dem Erhalt und der Pflege unserer Wurzeln.“
Risiken eingehen
Prof. Dr.-Ing. Jörg Wollert – ehem. Fachbereich Elektrotechnik und Informatik
„Ich bin ein Fan von Private Public Partnership, dualen Studiengängen und Kooperationen. Daher unterstützte ich die wachsende Vision eines forschenden, branchenbezogenen Standorts. Aber schaffen wir es, einen zweiten ingenieurwissenschaftlichen Standort zu etablieren?
Dafür waren Zusagen der Industrie wichtig. Da ich regelmäßig Seminare zu automatisierten Funktechniken für die Wirtschaftsförderung in Heiligenhaus angeboten hatte, konnte ich direkt bei den Klein- und Mittelständischen Unternehmen anfragen. Kurzum: Die lokalen Unternehmen waren begeistert und sagten ihre Unterstützung zu. Nach vielen Anträgen kam dann die Finanzierungszusage vom Land NRW. Als Hochschule erarbeiteten wir gemeinsam mit den Unternehmen vor Ort einen Lehrplan, der auf die Bedürfnisse der Region einging. Das ist auch die Stärke von dezentralen Standorten: Sie bleiben agil und dienen als Zugmittel für die lokale Wirtschaft. Es ist einfach klasse, dass der Standort aus einer Idee von Idealisten geboren und sich zu einer festen Größe in der Region etabliert hat. Das Beispiel CVH zeigt: Man muss Mut haben, auch unbequeme Wege zu gehen.“
Regionaler Anker
Dr. Thorsten Enge – Geschäftsführer Schlüsselregion e.V.
„2008 war wegen der Finanzkriese ein hartes Jahr. Gerade dann verkündete die Landesregierung, dass neue Hochschulstandorte gefördert werden würden. Gemeinsam mit der Hochschule Bochum hatten wir einen Antrag für den zweiten Standort gestellt. So war direkt klar, dass unsere Unternehmen hinter dem Vorhaben stehen. Schließlich hat die BO Kompetenzen, die sehr gut zu uns passen: Sie hat früh mit dualen Studiengängen begonnen und mit Unternehmen kooperiert. Wir hatten nicht viel Hoffnung, da wir dachten, dass Städte mit Zechenschließungen bevorzugt würden. Am Tag der Entscheidung lagen also zwei Pressemitteilungen vor mir auf dem Tisch: Eine für den Fall, dass wir die Zusage erhalten würden, eine für den Fall einer Absage. Letztere konnte ich zum Glück in den Papierkorb werfen. Das war im November. Im September sollte es bereits losgehen. In einer Hau-Ruck-Aktion hatten wir inmitten der Krise 25 duale Studienplätze in der Industrie organisiert und gemeinsam mit der BO einen Lehrplan erstellt. Dass die Hochschule überhaupt fragte, was der Mittelstand und die Familienunternehmen hier brauchen, das war super. Deswegen – und wegen der fantastischen Erfahrungen mit den Studierenden – erfährt der Campus einen großen Rückhalt und ist mittlerweile ein bedeutender Anker in der Region.“
Hürden nehmen
Prof. Dr.-Ing. Dietmar Gerhardt – ehemaliger Standortleiter CVH
„Der Beginn war recht stürmisch, da wir nur knapp neun Monate Zeit hatten, den zweiten Standort zum Laufen zu bringen. Wir mussten quasi bei Null beginnen – ohne Unterrichtsräume, ohne Geräte und ohne Mitarbeitende.
Wir lehrten zuerst in einem leerstehenden Bürogebäude mit ebenerdigen Hörsälen und mussten Geräte aus Bochum leihen. Mit dem Umzug in den Neubau ergab sich allerdings eine weitere Herausforderung: Die Labore, die uns nun zur Verfügung standen, mussten auch genutzt werden. Die wissenschaftlichen Mitarbeiterstellen haben wir recht zügig besetzt: Es gab zwar Stellen für wissenschaftliche Mitarbeitende, aber die fehlten zunächst am CVH. Die dualen Studierenden arbeiteten ja in den Unternehmen und hatten keine Zeit für eine zusätzliche wissenschaftliche Mitarbeit. Unter anderem deswegen wurden die grundständigen Studiengänge aufgebaut. Auch heute merkt man noch das Umtriebige, was die Anfangszeit des Standortes geprägt hat, wenn ein fahrendes Sofa über den Parkplatz huscht – Wissenschaftler sind manchmal eben auch nur Spielkinder. Ich wünsche mir, dass der Campus auch weiterhin ein Spielort bleibt, der lebendig, innovativ und voller Menschlichkeit ist.“
Menschlichkeit spüren
Anne Joyce Fanyim Kamga – Studentin der Technischen Informatik am Campus Velbert/Heiligenhaus
„Ich bin niemals durchgefallen. Weder in der Schule noch im Studium. Die Einsicht, dass ich nach acht Semestern nicht weiter an der RWTH Aachen studieren kann, fiel mir schwer.
Elektrotechnik ist kein einfacher Studiengang und mit Sprachproblemen kaum zu bewältigen. Hinzu kam die große Anonymität, die ich aus meiner Heimat Kamerun nicht gewohnt war. Unsere Kultur ist sehr aufgeschlossen, sehr sozial – das fehlte an der großen Hochschule leider. Deswegen wechselte ich 2018 an den Campus Velbert/Heiligenhaus und studiere hier Technische Informatik im Bachelor. Hier ist es sehr familiär und ich kann mit den Professoren reden – und zwar nicht nur über das Studium. Sie sind für uns Studierende da, sind einfach mal Menschen. Das hat mir sehr geholfen. Vielleicht müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass alles immer größer, schneller, besser sein muss. Dabei vergessen wir aber, dass manchmal das Kleine und Familiäre viele Vorteile hat.“